Die
auf Wachstum und die Übernutzung von Ressourcen setzende
Wirtschafts-, Konsum- und Mobilitätsform hat sich bis in die
kleinsten Nischen unserer Lebenswelt eingenistet und stellt einen
festen Bestandteil unseres mentalen und emotionalen Haushalts dar.
Kategorien wie Effizienz, Entwicklung, Fortschritt und Wettbewerb
sind tief in den Erziehungsnormen von Gesellschaften unseres Typs
verankert; womöglich sind Gesellschaften, die in hohem Maße auf
moderne Formen der Individualisierung und der daran gekoppelten
Leistungsbereitschaften und Biografien setzen, jenseits von
Wachstumsvorstellungen gar nicht denkbar, denn auch individuelle
Lebensläufe sind an Prinzipien der beständigen Steigerung von
Kompetenzen, Qualifikationen, Einkommen und sozialer Sicherung
orientiert.
Hinzu kommt, dass gegebene materielle,
institutionelle und mentale Infrastrukturen immer auch die
Kristallisationskerne von Zukunftsvorstellungen bilden - sie machen
es so schwer, vom Gegebenen wegzudenken und andere Welten zu
entwerfen. Am deutlichsten ist das am zurzeit vielleicht dümmsten
Zukunftsentwurf von allen zu sehen - der Ersetzung von benzin- oder
dieselgetriebenen Fahrzeugen durch Elektroautos. Mal abgesehen davon,
dass der Wechsel einer zur Fortbewegung notwendigen Energie kein
Energieproblem löst, sondern nur verlagert, verkörpert ein solcher
Zukunftsentwurf wiederum den begrenzten Horizont moderner
Gesellschaften: Ihr utopisches Credo lautet: Wie jetzt, nur besser!
Dabei ist das Problem nicht ein spezifischer Typ von Antrieb zur
Verwirklichung von Mobilitätsvorstellungen, sondern das Konzept von
Mobilität, dem die Bewohner moderner Gesellschaften huldigen. Nicht
nur sie selbst halten es für sinnvoll und normal, ausgerechnet in
Zeiten ungeahnter und weltumspannender Kommunikationsmöglichkeiten
pausenlos unterwegs zu sein, sondern schicken auch die Waren und
Güter, die sie zu benötigen glauben, auf so unendliche Reisen, dass
ein Apfel schon 10.000 Kilometer zurückgelegt haben kann, bevor er
gegessen oder in der Tonne für Ökoabfälle entsorgt wird, weil er
überflüssigerweise gekauft wurde.
Wirtschaft und Soziales
02.01.2010
Perspektiven der Überflussgesellschaft (2)
Von Harald Welzer und Meinhard Miegel