Zum gleichen Ergebnis, wenn auch
auf anderer Grundlage, wären die Menschen der vorindustriellen
Epoche gekommen. Zwar bedeutete Wohlstand für sie erst in zweiter
Linie genug zu essen, ein Dach über dem Kopf und vielleicht auch ein
wenig Geld zu haben. In erster Linie stand dieser Begriff für
Gesundheit sowie ein gutes Verhältnis zu Mitmenschen und Gott, also
Immaterielles. Aber zur Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse
waren sie, wie die Menschen von heute, auf Wachstum angewiesen, wenn
auch nicht auf das Wachstum der Wirtschaft. Ein solches Wachstum war
weithin unbekannt. Vielmehr bedeutete Wachstum für sie das Wachsen
von Feldfrüchten, Vieh und Wäldern oder kurz: der Natur. Gedieh
dort alles prächtig, stieg der materielle Wohlstand der Menschen und
sie konnten daran gehen, ihr Dach neu zu decken oder ihre Kirche zu
erweitern. Im umgekehrten Falle stagnierte oder sank ihr Wohlstand.
Der Wohlstand der Menschen entwickelte sich gewissermaßen wie ein
Wald, der wächst und wächst und dennoch nicht immer höher wird.
Diese unterschiedlichen Verwendungen sowohl des Wohlstands-
als auch des Wachstumsbegriffs gilt es bei der Suche nach einer
Antwort auf die Frage, ob Wohlstand ohne Wachstum machbar ist, im
Blick zu behalten. Nicht nur hat sich die Bedeutung dieser Begriffe
im Zeitablauf beträchtlich verändert. Auch ihre Verzahnung ist
heute eine andere als früher. Früherer Wohlstand hing nur zum Teil
von einem Wachstum ab, auf das die Menschen nur mäßigen Einfluss
hatten. Sie mussten die Dinge nehmen, wie sie kamen. Nicht so beim
größeren und wohl auch wichtigeren Teil ihres Wohlstands. Er war
wachstumsunabhängig: Gesundheit, zwischenmenschlicher Zusammenhalt,
Seelenfrieden. Dafür konnten sie etwas tun.
Auch für den
Wohlstand im heutigen Sprachgebrauch, den messbaren, zählbaren,
handfesten, glauben die Menschen etwas tun zu können und zwar ganz
folgerichtig, indem sie das Wachstum der Wirtschaft vorantreiben.
Denn deren Wachstum ist nach den Worten der Kanzlerin "der
Schlüssel zum Ganzen". "Ohne Wachstum", so weiter,
"keine Investitionen, keine Arbeitsplätze, keine Gelder für
die Bildung, keine Hilfe für die Schwachen". Mit anderen
Worten: kein Wohlstand. Das Dilemma: War schon das Wachsen in der
Natur nur ein bedingt verlässlicher Garant materiellen Wohlstands,
so ist es das Wachstum der Wirtschaft noch weniger.
Wirtschaft und Soziales
05.01.2010
Perspektiven der Überflussgesellschaft (5)
Von Harald Welzer und Meinhard Miegel